Pressekonferenz 11. April 2019 – Allianz für ein generelles Tempolimit auf Autobahnen in Deutschland

Bundespressekonferenz am 11. April 2019

Die Verkehrsunfall-Opferhilfe Deutschland e.V. (VOD) fordert:
Weniger Verkehrsopfer durch Entschleunigung;

  • Allgemeines Tempolimit auf deutschen Autobahnen
  • Tempobegrenzung auf 80 km/h auf Landstraßen
  • Regelgeschwindigkeit innerorts 30 km/h

Allgemeines Tempolimit auf deutschen Autobahnen

as Ziel der Bundesregierung, bis zum Jahre 2020 die Zahl der im Straßenverkehr Getöteten um mindestens 40 % gegenüber dem Jahr 2010 zu reduzieren, ist ganz offensichtlich nicht mehr erreichbar. Zur Zielerreichung hätte diese Zahl nach sieben Aktionsjahren um 28 % auf 2.627 zurückgegangen sein müssten. Tatsächlich starben im Jahr 2017 auf Deutschlands Straßen 3.180 Menschen, was einem Rückgang von nur 13 % entspricht. Nach den derzeitig bekannten Zahlen wird nach den vorläufigen Ergebnissen die Anzahl der getöteten Verkehrsopfer nach Angaben des Statistischen Bundesamtes (Pressemitteilung Nr. 069 vom 27.02.2019) im Jahr 2018 sogar erneut auf 3.265 und somit um 2,7 % gegenüber dem Vorjahr steigen. Es wird deutlich, dass ohne sofortige konkrete Maßnahmen das selbstgesteckte – gegenüber den Zielen der EU schon reduzierte – Ziel nicht erreichbar sein wird.
Sowohl nach der Europäischen Menschenrechtskonvention wie auch nach dem Grundgesetzt obliegt dem Staat eine Schutzpflicht für die in seinem Staatsgebiet aufhältigen Menschen.
Der EUGH hat am 05.03.2009 in seinem Urteil Az 77144/01, 35493/05 darauf hingewiesen, dass das Recht auf Leben aus Artikel 2 Abs. 1 Satz 1 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) den Staat auch verpflichtet, das Leben der seiner Gerichtsbarkeit unterstehenden Personen zu schützen.
Die beiden Grundrechte auf Leben und körperliche Unversehrtheit gem. Art. 2 Abs. 2 Satz 1 des Grundgesetzes verpflichten nach Auslegung durch das Bundesverfassungsgericht (BVerfG, 25. Februar 1975, Rn. 151) alle staatliche Gewalt jedes menschliche Leben zu schützen.
Diese Schutzpflicht gebietet dem Staat daher auch im Straßenverkehr die erforderlichen und wirksamen Maßnahmen zum Schutz vor Beeinträchtigungen der körperlichen Unversehrtheit und der Gesundheit zu treffen.

Wenn es nachgewiesenermaßen ein hohes Potenzial gibt, mit einem Tempolimit Menschenleben zu retten, zusätzlich auch weitere positive Aspekte in anderen Politikfeldern zu erwarten sind (Klimaziele, die ebenfalls auf den Schutz des Bürgers abheben), stellt sich nicht zuletzt vor dem Hintergrund dieser Schutzpflicht des Staates in Verbindung mit der Selbstverpflichtung der Regierungsparteien in der Koalitionsvereinbarung: „Wir sehen uns der „Vision Zero“, also der mittelfristigen Senkung der Anzahl der Verkehrstoten auf null, verpflichtet.“ die Frage, warum nicht unverzüglich gehandelt wird.

Bereits im Jahr 2015 hat der Deutsche Verkehrssicherheitsrat (DVR) in seinen Publikationen „Schriftenreihe Verkehrssicherheit“ als Nr. 16 die Vision Zero vorgestellt und auf den Punkt gebracht:

„Bei Zielkonflikten gibt Vision Zero klar die Richtung vor: im Zweifel für die Verkehrssicherheit. Kern dieses Ansatzes ist die Einsicht, dass der Mensch im Verkehrssystem nicht fehlerfrei agieren kann. Ohne ihn aus seiner Verantwortung zu entlassen, muss dieses System daher so gestaltet sein, dass Fehler möglichst keine fatalen Folgen haben. Das Verkehrssystem ist an den Menschen anzupassen und nicht umgekehrt.“

Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass es aus Sicht der Verkehrssicherheit nicht ein einziges Argument gibt, das ein Festhalten an dem Status quo rechtfertigen könnte, aber bei einer Einführung eines Tempolimits auf Autobahnen eine Vielzahl belegter positiver Wirkungen entstünde. [1]

[1] siehe Anlage Argumente zum Tempolimit

Tempobegrenzung auf 80 km/h auf Landstraßen

Auch wenn die aktuelle Debatte über das Tempolimit auf deutschen Autobahnen die Diskussion derzeitig bestimmt, darf nicht vergessen werden, dass auch mit weiteren die Hauptunfallursache Geschwindigkeit betreffenden Maßnahmen die Anzahl der Getöteten und verletzten Personen reduziert werden könnte.
Die VOD unterstützt daher zur weiteren Verbesserung der Verkehrssicherheit die Empfehlung des Arbeitskreis VI „Unfallrisiko Landstraße“ des 53. Deutschen Verkehrsgerichtstages, zu deren Zustandekommen wir als Verband auch maßgeblich beitragen konnten:

Zur Reduzierung schwerer Unfälle soll die Regelgeschwindigkeit für Pkw und Lkw gleichermaßen bei 80 km/h liegen. Dazu ist eine Umkehrung von Regel und Ausnahme bei der zulässigen Höchstgeschwindigkeit erforderlich. Entsprechend ausgebaute oder ertüchtigte Straßen können danach weiter für Tempo 100 freigegeben werden.“

Damit würde die Notwendigkeit von Überholvorgängen und damit die auf Landstraßen maßgebliche Hauptunfallursache „Fehler beim Überholen“ wesentlich reduziert.

Regelgeschwindigkeit innerorts 30 km/h

Nach der langjährigen Diskussion über die Umkehrung der Regelgeschwindigkeit innerorts, nach der dann 30 km/h als Regelgeschwindigkeit und 50 km/h auf Hauptverkehrsstraßen verordnet wären, bedarf vor dem Hintergrund der Erkenntnisse aus vielfältigen Studien zum Verletzungsrisiko von Fußgängern und Radfahrern endlich einer Realisierung.

Geschwindigkeitsbeschränkungen hat zwar bei den meisten Fahrern eine Reduktion der gefahrenen Geschwindigkeit zur Folge, allerdings müssen die uneinsichtigen durch wesentlich höhere Sanktionen, die dem Gefährdungspotential der Geschwindigkeitsüberschreitung Rechnung tragen und eine stärkere Verkehrsüberwachung reglementiert werden. Die Schweiz zeigt mit ihrem entsprechenden Maßnahmenpaket „Via sicura“ auf, welche Erfolge mit einer konsequenten Verkehrssicherheitsarbeit möglich sind.

Um der Exekutive auch das notwendige Handwerkzeug dazu an die Hand zu geben, wären weitere Gesetzesänderungen erforderlich. Für neue technische Möglichkeiten (z.B. Section Control) ist eine bundeseinheitliche Rechtsgrundlage für die Verkehrsüberwachung erforderlich.

Dazu sollte sich der Gesetzgeber positionieren, in wie weit das vom Bundesverfassungsgericht in seinem Volkszählungs-Urteil aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht (Art.2 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG) entwickelte „Recht auf Informationelle Selbstbestimmung“ gegenüber dem verfassungsrechtlich gem. Art. 2 Abs. 2 Satz 1 verbrieften Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit eingeschränkt werden kann.


[1] Anlage: Argumente zum Tempolimit auf Autobahnen

Alle einschlägigen Studien zur Wirkung eines Tempolimits weisen abhängig von der jeweiligen Ausgangslage nach, dass die Anzahl der Verkehrstoten um 20 % bis 50 % wesentlich reduziert werden kann. 2018 legten das International Transport Forum (ITF) und die International Traffic Safety Data and Analysis Group (IRTAD) einen Bericht mit elf Fallstudien aus zehn Ländern zu den Wirkungen geschwindigkeitsbezogener Maßnahmen auf das Unfallgeschehen vor. Die Wirkung der Geschwindigkeit auf das Unfallgeschehen wird darin nachvollziehbar belegt: Bei geringeren Geschwindigkeiten ergeben sich Reduktionen bis zu 49 % (Schweden: Anzahl der Getöteten und Schwerverletzten bei einem von 110 auf 100 reduzierten Tempolimit), bei der Erhöhung des bestehenden Tempolimits von 110 auf 130 in Dänemark musste eine Steigerung um 24 % bei den Personenschäden konstatiert werden. Es kann bei dieser Datenlage nicht länger argumentiert werden, eine Wirkung eines Tempolimits hinsichtlich Anzahl der Verkehrstoten sei nicht belegbar.

Nach den letzten verfügbaren Auswertungen des Statistischen Bundesamtes wurde mit Blick auf das Jahr 2016 festgestellt, dass rund 72 % aller Getöteten auf Autobahnabschnitten ohne Geschwindigkeitsbegrenzung verunglückten.

Eine Erhebung des Deutschen Verkehrssicherheitsrates (DVR) aus dem Jahr 2016 hat unter anderem explizit Geschwindigkeitsunfälle auf Autobahnen untersucht, also Unfälle, bei denen mindestens ein Beteiligter eine nicht angepasste Geschwindigkeit aufwies. Das Ergebnis: Von deutschlandweit 185 Todesopfern bei Geschwindigkeitsunfällen kamen 122 Menschen (66 %) in Abschnitten ohne Tempolimit ums Leben. 63 Unfallopfer (34 %) starben in tempolimitierten Zonen.

Der Verweis auf die anscheinend geringe Prozentzahl von aktuell etwa 13 % der auf deutschen Autobahnen zu Tode kommenden Verkehrsteilnehmer wird gern als Argument für die Sicherheit deutscher Autobahnen angeführt. Es wäre auch sehr verwunderlich, wenn eine Infrastruktur ohne plangleiche Knoten, ohne Gegenverkehr oder Hindernisse im Seitenraum gefährlicher wäre als Außerortsstraßen, auf die das im Regelfall nicht zutrifft. Wenn man aber die deutschen Ergebnisse einmal in Relation zu den europäischen stellt, wird das Optimierungspotential deutlich. Auf europäischen Autobahnen beträgt der Anteil der auf Autobahnen Getöteten 8 % und darin sind die 13 % aus Deutschland schon enthalten, ansonsten würde die Relation noch deutlicher abweichend ausfallen.


Bereits 2010 hat der Wissenschaftliche Beirat des Verkehrsministeriums neben vielen anderen Empfehlungen ein Tempolimit auf Autobahnen von 130 km/h empfohlen, nicht zuletzt, weil aufgrund der geringeren Differenzgeschwindigkeiten ein harmonischerer Verkehrsfluss mit weniger Verkehrsstaus zu erwarten ist.

In vielfältigen Umfrageergebnisse wird festgestellt, dass die Mehrheit der Deutschen für ein Tempolimit votiert. Bei einer 2017 durchgeführten Umfrage des Deutschen Verkehrssicherheitsrates befürworteten 52 % der Autofahrerinnen und Autofahrer ein generelles Tempolimit auf deutschen Autobahnen. Nach dem ZDF-Politbarometer, Ende Januar 2019, ist jeder zweite Deutsche (50 %) für ein Tempolimit von 130 Stundenkilometern. 7 % der Befragten können sich sogar ein Tempolimit unter 130 km/h vorstellen, nur noch 41 % sind gegen ein allgemeines Tempolimit. Das zeigt auf, dass bereits heute in der Bevölkerung eine hohe Akzeptanz für die Einführung eines Tempolimits auf BAB in Deutschland gegeben ist.

Häufig wird als Argument gegen ein Tempolimit auf BAB auf die noch deutlich unsichereren Landstraßen verwiesen. Es müsse vermieden werden, dass der Verkehr auf die gefährlicheren Landstraßen ausweicht. Das Gegenteil ist der Fall: Extremgeschwindigkeiten und starke Geschwindigkeitsdifferenzen ängstigen einen Teil der Autofahrer und Autofahrerinnen, darunter vor allem ältere Personen und solche, die wenig fahren. Sie fühlen sich den Anforderungen, die aus sehr hohen Geschwindigkeiten (und insbesondere sehr hohen Geschwindigkeitsdifferenzen) entstehen, nicht gewachsen, meiden deshalb die Autobahnen und fahren stattdessen auf (unsichereren) Landstraßen. In einer DVR-Umfrage zum Verhalten auf der Autobahn äußerte fast ein Drittel aller befragten Autofahrerinnen und Autofahrer (32 %), dass sie durch hohe Geschwindigkeitsunterschiede auf deutschen Autobahnen verunsichert werden. Einige (6 %) – insbesondere Ältere – vermeiden aus Angst vor dieser Stresssituation Autobahnfahrten nach Möglichkeit ganz. Dies wird von Moderatoren im Seniorenprogramms „sicher mobil“ der Deutschen Verkehrswacht (DVW) bestätigt. Aufgrund der demografischen Entwicklung wird sich dieser Befund ohne Einführung eines Tempolimits noch verstärken.

Geschwindigkeitsbegrenzungen auf Autobahnen haben insofern auch einen sozialen Effekt: Sie verbessern die Zugangsgerechtigkeit. Älteren und Wenigfahrenden wird so die Angst vor einer Autobahnnutzung genommen und ein Ausweichen auf gefährlichere Landstraßen vermieden.

Bei Zugrundelegung der Durchschnittsgeschwindigkeiten auf Autobahnen[1]verändern sich die Fahrzeiten für das einzelne Fahrzeug bei einer Geschwindigkeitsbegrenzung von 130 km/h kaum. Auf Autobahnen in Ballungsgebieten liegt die Durchschnittsgeschwindigkeit schon heute weit darunter. Auf den anderen Autobahnen liegt die Durchschnittsgeschwindigkeit mit 124,7 km/h nicht höher als 130 km/h und nur geringfügig über der Durchschnittsgeschwindigkeit von 116,5 km/h bei Einbeziehung der Streckenabschnitte mit Geschwindigkeitsbegrenzung.

Diese Zahlen der Bundesanstalt für Straßenwesen, eine dem BMVI direkt nachgeordnete Dienststelle, machen aber unter Berücksichtigung des Powermodells[2] deutlich, welche positiven Effekte hinsichtlich der zu vermeidenden Getöteten zu Schwerverletzten zu erwarten wären.

 


[1] GESCHWINDIGKEITEN AUF BUNDESAUTOBAHNEN IN DEN JAHREN 2010 BIS 2014, Löhe, BASt 2016

https://www.bast.de/BASt_2017/DE/Verkehrstechnik/Publikationen/Download-Publikationen/Downloads/Geschwindigkeiten-BAB-2010-2014.pdf?__blob=publicationFile&v=1

Zuletzt abgerufen am 28.03.2019

[2] Nilsson, G (2004) Traffic Safety Dimensions and the Power Model to Describe the Effect of Speed and Safety


Die Pressemitteilung als PDF finden Sie hier: 2019-04-08_VOD-Presseerklaerung-zum-Tempolimit.pdf