Achtsam miteinander umgehen – auch im Straßenverkehr
Münster, 20. April 2020. Verkehrsteilnehmerinnen und Verkehrsteilnehmer müssen Lehren aus der Corona-Krise ziehen, ebenso die Politik, fordert die Verkehrsunfall-Opferhilfe Deutschland e.V (VOD). Zum Schutz des menschlichen Lebens nehmen zurzeit alle Bürgerinnen und Bürger umfassende Beschränkungen in Kauf. Auch im Straßenverkehr sollte das Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit gelten, so wie es das Grundgesetz den Politikerinnen und Politikern unseres Landes als wichtigste staatliche Aufgabe vorschreibt.
Die Corona-Krise hat wochenlang die Schlagzeilen und Berichte in den deutschen Medien dominiert. Die Pandemie hat die Gedanken und Gefühle vieler Menschen beherrscht. In einer ersten Phase mit furchterregenden Bildern aus Italien haben Fassungslosigkeit, Angst vor Kontrollverlust und Sorge vor Krankheit und Tod die öffentlichen Diskussionen und privaten Gespräche bestimmt. Zugleich war es beeindruckend zu sehen, wie viel Kraft, Kreativität, Zuversicht und Solidarität in unserer Gesellschaft stecken.
Ab Mitte April wird das öffentliche Leben in Deutschland behutsam wieder hochgefahren. Es entwickelt sich ein vorsichtiger Optimismus. Fachleute aus Wissenschaft, Philosophie, Zukunftsforschung und Politik machen sich Gedanken zu Lockerungen der restriktiven Vorschriften und zur Gestaltung der Welt nach der Krise.
Die VOD nimmt ausgewählte Verlautbarungen zur Corona-Krise zum Anlass, auf eine andere Gesundheitskrise hinzuweisen: die Verkehrsunfälle mit Getöteten und Schwerverletzten. Jahr für Jahr bedeuten sie Leid, Verlust, Tod, Trauer und wirtschaftliche Not. Weltweit werden jährlich 1,35 Millionen Menschen im Straßenverkehr getötet (Deutschland 2018: 3.265) und bis zu 50 Millionen Menschen verletzt (Deutschland: fast 400.000). Welche Lehren können aus der Corona-Krise gezogen werden, um zukünftig Leben zu retten und Unfallopfern und Angehörigen großes Leid zu ersparen?
Bundeskanzlerin Angela Merkel zu den Leidtragenden der Ansteckung durch das Virus in ihrer Fernsehansprache am 18. März 2020: „Das sind nicht einfach abstrakte Zahlen in einer Statistik, sondern das ist ein Vater oder Großvater, eine Mutter oder Großmutter, eine Partnerin oder Partner, es sind Menschen. Und wir sind eine Gemeinschaft, in der jedes Leben und jeder Mensch zählt.“
Auch Verletzte und Getötete im Straßenverkehr sind nicht nur Zahlen in der jährlichen Verkehrsunfall-Statistik, sie sind Mütter und Väter, Partnerinnen und Partner. Auch hier muss für unsere Gemeinschaft gelten, dass jedes Menschenleben zählt. Kommt ein Mensch im Straßenverkehr zu Tode, sind laut einer repräsentativen Erhebung im Durchschnitt 113 Personen davon unmittelbar betroffen: Angehörige, Freunde und Bekannte sowie Rettungssanitäter, Feuerwehrkräfte und Polizisten am Unfallort.
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier in seiner Fernsehansprache am 11. April 2020: „Ja, wir sind verwundbar. Vielleicht haben wir zu lange geglaubt, dass wir unverwundbar sind, dass es immer nur schneller, höher, weiter geht. Aber das war ein Irrtum. (. . .) Den Kraftakt, den wir in diesen Tagen leisten, den leisten wir doch nicht, weil eine eiserne Hand uns dazu zwingt. Sondern weil wir eine lebendige Demokratie mit verantwortungsbewussten Bürgern sind! Eine Demokratie, in der wir einander zutrauen, auf Fakten und Argumente zu hören, Vernunft zu zeigen, das Richtige zu tun. Eine Demokratie, in der jedes Leben zählt – und in der es auf jede und jeden ankommt.“
Auch im Straßenverkehr sind wir verwundbar, Jung und Alt. Es kann jede und jeden treffen, täglich und mit ungewissem Ausgang. Alle verantwortungsbewussten Bürger in unserer lebendigen Demokratie sollten deshalb noch mehr als bislang Vernunft zeigen und das Richtige tun, beispielsweise: Verkehrsregeln befolgen. Angemessene Geschwindigkeiten wählen. Höchstgeschwindigkeiten nicht überschreiten. Ausreichenden Abstand halten. Rücksichtsvoll handeln. Auch die politisch Verantwortlichen sollten Vernunft zeigen und das Richtige tun, indem sie noch mehr auf Fakten und Argumente aus der Unfallforschung hören, z.B.: Höchstgeschwindigkeiten stärker den Gefährdungen anpassen, innerorts, auf Landstraßen und auf Autobahnen. Außerdem muss die Rechtsstellung von Verkehrsunfallopfern mit körperlichen oder psychischen Folgen verbessert werden. Nur so hat die Aussage des Bundespräsidenten auch in Bezug auf die Mobilität im Straßenverkehr Bestand(nicht nur bei einer lebensbedrohlichen Pandemie): „Eine Demokratie, in der jedes Leben zählt – und in der es auf jede und jeden ankommt.“ Die vielen Verkehrstoten dürfen laut VOD in unserem Staat nicht wie eine „ganz normale Mortalitätsrate“ achselzuckend hingenommen werden, weil wir genau wissen, unter welchen Bedingungen viele der Todesfälle hätten vermieden werden können.
Auch Soames Job, Leiter der Global Road Safety Facility bei der Weltbank, vertritt die Ansicht, dass wir Lehren aus der Pandemie für die Verkehrssicherheit ziehen müssen. Er moniert, dass die Politik oft die Verantwortung für Todesfälle im Straßenverkehr auf die Verantwortungslosigkeit der Menschen zurückführe. Tatsächlich aber würden wir alle Fehler machen und Risiken ab und zu falsch einschätzen. Viele Unfallopfer seien völlig unschuldig. Job plädiert dafür, Politiker für tödliche Verkehrsunfälle verstärkt zur Rechenschaft zu ziehen, weil die Zahl der Menschen, die bei Verkehrsunfällen sterben, sowohl von der Schuld des Einzelnen als auch von politischen Entscheidungen abhänge. Politiker können demnach Schäden verringern, wenn sie für sichere Straßen, sichere Fahrzeuge und für sichere Geschwindigkeiten sorgen.
Wer es mit dem Schutz des menschlichen Lebens grundsätzlich ernst meint – nicht nur in der Corona-Krise –, sollte sich nach Meinung der VOD einer faktenbasierten Diskussion um generelle Temporeduzierungen in Deutschland nicht verweigern: innerorts, auf Landstraßen und auf Autobahnen. Die Geschwindigkeiten und die damit verbundenen physikalischen Kräfte sind die zentralen Größen des Unfallgeschehens und der Unfallfolgen.
Frank-Walter Steinmeier: „Die Welt danach wird eine andere sein. Wie sie wird? Das liegt an uns! Lernen wir doch aus den Erfahrungen, den guten wie den schlechten, die wir alle, jeden Tag, in dieser Krise machen.“
Die Verkehrsunfall-Opferhilfe Deutschland stimmt diesem Vorschlag ohne Einschränkungen zu – zum Wohle aller und ganz im Sinne der Sicherheitsstrategie „Vision Zero“: keine Toten und Schwerverletzten im Straßenverkehr; bei der Abwägung von unterschiedlichen Werten oder Zielen muss die Unversehrtheit des Menschen an erster Stelle stehen; Leben ist nicht verhandelbar.
Quellen:
https://www.bundesregierung.de/breg-de/themen/coronavirus/ansprache-der-kanzlerin-1732108
https://www.dvr.de/presse/informationen/neue-runter-vom-gas-autobahnkampagne-jeder-unfalltod-betrifft-das-leben-von-113-menschen_id-4753.html
http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Frank-Walter-Steinmeier/Reden/2020/04/200411-TV-Ansprache-Corona-Ostern.html
https://blogs.worldbank.org/transport/can-covid-19-teach-us-something-road-safety-epidemic
Die deutsche Übersetzung des Beitrages kann auf der Website der VOD ab dem 21. April 2020 eingesehen werden:
Kann-uns-COVID-19-etwas-fuer-die-Epidemie-der-Verkehrssicherheit-lehren.pdf
Abdruck honorarfrei – Belegexemplar erbeten
Michael Heß
Pressereferent
Verkehrsunfall-Opferhilfe Deutschland e.V. (VOD)
Deutsche Hochschule der Polizei (DHPol)
Postfach 100 553
48054 Münster
pressestelle@vod-ev.org
www.vod-ev.org
Die Verkehrsunfall-Opferhilfe Deutschland (VOD) e.V. wurde im Jahr 2011 gegründet. Sie vertritt als unabhängiger deutscher Dachverband die Interessen der deutschen Institutionen und Selbsthilfeeinrichtungen zum Schutz von Verkehrsunfallopfern. Die VOD unterstützt ihre Mitgliedsorganisationen ideell und materiell, zum Beispiel durch politische Aktivitäten, Beteiligung an Forschungs- und Entwicklungsprojekten, durch Veranstaltungen wie Netzwerktreffen oder Symposien sowie durch fachliche Impulse.